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Aufstand vor 71 Jahren: „Fast eine Revolution in Görlitz“

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In Görlitz, Zittau, Cottbus, Rothenburg und anderen Städten in der Lausitz wird heute an Teilnehmer und Opfer des Volksaufstandes vor 71 Jahren erinnert. Am Görlitzer Gerichtsgebäude werden am Vormittag Kränze niedergelegt. Stilles Gedenken um 17.30 Uhr am Platz des 17. Juni in Zittau. Am Abend wird die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld zur Montagskundgebung in Zittau erwartet und eine Rede halten.

Innehalten auch in Rothenburg. Mitglieder des CDU-Gemeindeverbandes legen um 18.30 Uhr am Alfred-Wagenknecht-Platz einen Kranz nieder.  Der Fuhrunternehmer hatte am 17. Juni 53  einen aus dem Görlitzer Gefängnis befreiten politischen Häftling mit nach Rothenburg genommen. Zwei Tage später wurde er verhaftet. Er starb an schweren Misshandlungen im Volkspolizei-Gewahrsam in Niesky. Ein von der Familie beauftragter Arzt stellte u.a. Brand- und Kopfwunden am Leichnam fest. Polizei und SED verbreiteten dagegen, dass Wagenknecht sich in seiner Zelle erhängt habe.

Links:

http://www.17juni53.de/tote/wagenknecht.html

https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/volksaufstand-vom-17-juni-1953-der-ddr/erinnerungsorte/uebersicht/sachsen

Die Ereignisse am 17. Juni 1953 in Görlitz

55 Menschen kamen damals in Sachsen ums Leben. Görlitz war ein Brennpunkt und Zentrum der Erhebung in der DDR. Historiker schätzen, dass damals bis zu  30.000 Menschen auf die Straße gingen. Die Demonstranten forderten den Rücktritt der SED-Regierung, freie Wahlen und die Auflösung der kasernierten Volkspolizei sowie die Aufhebung der Oder-Neiße-Grenze. Nach Einschätzung des Historikers Mike Schmeitzner glichen die Aktionen in Görlitz fast  einer Revolution.

Schaltstellen der Macht für einige Stunden besetzt

Die Aufständischen übernahmen für einige Stunden die Macht in Görlitz.  „Sie setzten den Oberbürgermeister ab und besetzten Schaltstellen der Macht. Die beiden Gefängnisse wurden gestürmt und politische Häftlinge freigelassen.“, so Ratsarchivar Siegfried Hoche.  Dabei sei es zu keinen großen gewaltsamen Ausschreitungen oder Fällen von Lynchjustiz gekommen.

„Es war ein Volksaufstand im Wortsinn“

Am Aufstand in Görlitz beteiligten sich nicht nur Arbeiter, sondern auch Handwerker, Unternehmer, Ärzte, Lehrer und Schüler. „Es war im Wortsinn ein Volksaufstand“, so Hoche. Ein Stadtkomitee wurde gebildet. Eine Bürgerwehr sollte für Ordnung sorgen.  Allerdings kam es vereinzelt auch zu Verwüstungen. „Die Massen stürmten die Berliner Straße herunter und schlugen Schaufensterscheiben ein. Brote wurden auf die Straße geschmissen“, erinnert sich Wolfgang Kretschmar. Er war damals 17 Jahre alt, Lehrling in einer Bäckerei. Die Demonstranten skandierten: „Meister, lass deine Lehrlinge raus! Kommt alle mit!“. Kretschmers Staatsbürgerkunde-Lehrer habe damals  für ein paar Tage sein SED-Parteiabzeichen  abgelegt.

Über den Stadtfunk wurde der Belagerungszustand ausgerufen

Doch schon am Nachmittag des 17.Juni wendete sich das Blatt. Die Herrschenden rissen wieder das Heft des Handelns an sich. „Über den Stadtfunk wurde der Belagerungszustand ausgerufen, ein Streik- und Demonstrationsverbot verhängt“, weiß der Ratsarchivar zu berichten. Dann kamen auch schon die Russen. Sie fuhren mit T 34-Panzern in die Stadt. Ihre Präsenz zeigte offenbar Wirkung.  Menschen liefen auseinander. Die sowjetischen Besatzer drohten mit der sofortigen Erschießung der „Aufrührer“.

In den darauffolgenden Tagen wurden viele Aufständische - in der Sprache der SED-Machthaber „Rädelsführer“ genannt  -  festgenommen. Sie erhielten langjährige Haftstrafen. Zwei Jugendliche sollen damals zum Tode verurteilt worden sein. Anderen Aufständischen gelang im letzten Augenblick die Flucht nach Westberlin.

Audio:

Reporter Knut-Michael Kunoth
Reporter Knut-Michael Kunoth im Gespräch mit Ratsarchivar Siegfried Hoche
Nach Einschätzung des Historikers Mike Schmeitzner glichen die Aktionen in Görlitz fast einer Revolution
Zeitzeuge Wolfgang Kretschmar. Er war damals Bäckerlehrling in Görlitz.
Zeitzeuge Günter Kern aus Kamenz